Tag 36 (26.06.2016): Es herrscht Parkordnung vor der Strandbar!
Endlich! Die verheißungsvoll muffige Luft und das dringende Bedürfnis, sofort alle Fenster im Wohnmobil aufreißen zu wollen lässt auf eins schließen: Sonnenschein! Und genauso ist es. Mit einem strahlend blauen Himmel heißt uns der neue Tag Willkommen und gibt erstmals einen kompletten Überblick über die umliegenden schroffen Berge und Felsstrukturen frei. Dass das Meer direkt vor unseren Rädern glasklar ist, konnten wir in den letzten Tagen zwar schon feststellen, aber heute Morgen leuchtet der komplette Sund unterm dem Einwirken des Sonnenlichtes in einem atemberaubenden Türkis.
Gegen 12:00 Uhr fahren wir los und navigieren uns einmal ganz analog mit der über und über mit Insider-Tipps von unserer Haltebucht-Bekanntschaft bemalten Karte in Richtung der Lofoten. Wir durchfahren eine kleine von Seen durchzogene Hochebene um kurz darauf wieder auf den nächsten Fjord zu treffen. Schnell hat man die Orientierung verloren, was aber wiederum nicht schlimm ist, denn verfahren kann man sich eigentlich nicht – es gibt ja nur die E10 als einzige Hauptverkehrsstraße.
Seit einem Monat glaubten wir nun schon, eine neue Dimension der Farbsättigung von Mutter Natur gesehen zu haben, aber offenbar schafft es der nordwestliche Landstrich von Norwegen noch einen nachzulegen: gefühlt wird hinter jeder Kurve der Berg schroffer, das Gras grüner, die Lupinen violetter, die Strände feiner und weißer und vor allem das Wasser klarer und türkiser – und wir sind noch nicht einmal auf den Lofoten!
Doch nur noch ein paar Kurven trennen uns noch davon. Merklich wird das Land schmaler und spätestens jetzt wird klar, dass man eine – wenn auch große – Inselkette befährt: mal wird die Straße an der nordwestlichen Küste entlang geführt, mal umfährt man die steil aufragenden Berge auf der südöstlichen Seite der Inseln. Anfang und Ende einer Insel werden jeweils durch eine Brücke markiert, die über türkisblaue Sunde hinwegführen.
Wir biegen von der E10 ab in Richtung der ersten Empfehlung, die auf unserer vollgemalten Karte steht und uns zu einsamen Buchten mit uneingeschränkter Sicht auf die Mitternachtssonne führen soll. Der Name ist Programm: wir Befahren den „Midnattsolveien“ („Mitternachtssonnenweg“). Die schmale Straße schlängelt sich durch Dünenlandschaften mit kniehohem Gras, entlang einzelner Häuschen und Bauernhöfe, die sanft in Millionen von Butterblümchen gebettet sind. Ein paar einsame Birken und Kiefern bilden den einzigen Baumbestand, während am Horizont Sonne und Meer sich in einem leichten Dunstschleier zu einer gleißend hellen Masse vereinigen. Es scheint ein bisschen, als sei die Zeit stehen geblieben, aber hier ist Norwegen tatsächlich so, wie es in meiner Wunschvorstellung sein sollte. Gemächlich tuckern wir mit maximal 30 km/h die Straße entlang und versuchen uns satt zu sehen, aber es klappt nicht, denn hinter jeder Wegbiegung lauern neue Impressionen.
Wir treffen auf einen versandeten Fjord, den wir umfahren müssen. Der feine Sand am Grund offenbart, dass das kristallklare Wasser an tieferen Stellen grell türkis leuchtet. In karibischen Gefilden, vor denen sich das hiesige potentielle Postkartenmotiv in keiner Weise verstecken muss, würden vermutlich tausende Badegäste dieses Idyll stürmen, aber die Wassertemperatur beträgt nur knapp über 10°C und so sind wir nahezu alleine hier.
Einige norwegische Autos überholen uns hektisch – wahrscheinlich sind das die Leute, die dieses Panorama schon ihr Leben lang kennen. Das einzige Wohnmobil, welches wir noch sehen hat bereits DIE Stelle direkt am Wasser zum Nachtquartier erklärt – Campingplätze sucht man in diesem Landstrich vergebens.
Wir fahren weiter. Nach unserer Umrundung des „Morfjords“ durchfahren wir zunächst „Sommarhus“ und gleich darauf „Sommarhusstrand“ – in beiden Fällen ist der Name Programm: einzelne weiße, gelbe oder rote Holzhäuschen verteilen sich auf der schier riesigen Dünenlandschaft.
Kurze Zeit später landen wir in „Sanden“. Das nahezu einzige weiße Gebäude ist eine alte, in Richtung Strand gelegene Holzkirche, an der wir über einen Schotterweg vorbeifahren, um zu schauen, ob weiter vorne am Wasser eventuell ein Plätzchen ist, an dem wir die Mitternachtssonne beobachten können. Doch leider endet der Weg in einem Privatgrundstück, vor dem bereits ein anderes deutsches Wohnmobil parkt. Unter kritischen Blicken schießen wir ein paar Fotos und machen wieder kehrt, um der Fv888 weiter zu folgen.
Von der Straße aus sehen wir plötzlich einen zunächst undefinierbaren Glaskasten, der sich vor der grellen Reflexion des Sonnenlichts auf der Meeresoberfläche abzeichnet. Irgendwo haben wir das Gebäude schon einmal gesehen, können es aber nicht zuordnen. Vorsichtig fahren wir den holprigen Weg bis zum Ende und stehen vor einem imposanten Konstrukt aus Glas, Holz und Beton. Was wir zunächst als Aussichtspunkt interpretieren stellt sich als frei zugängliche Schutzhütte für Radreisende heraus. Wenige Meter daneben steht eine kleine Hütte, der allerdings ein Wandelement fehlt und man dadurch hineintreten kann. Die Hütte ist komplett mit Teppichen ausgelegt. In der einen Ecke steht ein Bolleröfchen, in der anderen lehnt eine Gitarre. Dazwischen stehen eine (teils bestückte) Bar, ein Tisch und Bänke mit Fellen. In Richtung Meer ist ein raumhohes Fenster in der Wand eingelassen, außen hängt die Solardusche und es sieht aus, als seien just in diesem Moment alle Gäste der hawaiianischen Strandbar mit ihren Boards draußen in den Wellen. Aber wir sind in Norwegen, komplett alleine an diesem Fleck hier und immer noch unsicher, ob wir uns erdreisten können, hier stehenzubleiben. Um uns herum wachsen Wildblumen in allen Farben. Während die Mädels einen Blumenkranz für Lani flechten, bereite ich das Abendessen vor. Plötzlich sehen wir ein Auto mit Blaulicht auf dem Dach den Weg entlang fahren und auf uns zukommen. Der erste Gedanke, dass wir von den Ordnungshütern verscheucht werden könnten entpuppt sich als falsch: es ist ein Feuerwehrmann auf dem Rückweg von einem Lehrgang, der gemeinsam mit seiner extra mit dem Flugzeug angereisten Freundin in seinem Dienstwagen die Lofoten erkunden will und uns nach unserer Einschätzung fragt, ob sie hier ihr Zelt aufbauen könnten…
Wenige Zeit später taucht erst ein vollbepackter Radfahrer auf, der rechtmäßig seine Herberge bezieht um dass ihm kurze Zeit später ein eintreffendes norwegisches Wohnmobil die Aussicht raubt, da es genau quer vor der Schutzhütte zu parken meint. Nach einer impulsiven Einweisung des Radfahrers ist auch der norwegische Wohnmobilist über die Parkordnung im Bilde und wir sind fortan nicht mehr alleine.
Der eiskalte Wind schafft es leider doch ab 22:00 Uhr Wolken über uns zu pusten, weshalb uns die Vorzüge des „Midnattsolveien“ versagt bleiben, dennoch genießen wir den Blick über’s Meer und verbringen den Abend mit Reden und Träumen, während wir aus dem Fahrerhäuschen über das Meer schauen.